Kaum eine Band kann auf eine so bewegte Geschichte zurückblicken und stand gleichzeitig so im Schatten des Interesses der Musikmedien wie die Lukas Tower Band (LTB). Das lag nicht nur am Genre, dem sich die Band verschrieben hatte, „ein eigenwilliger, ehrgeiziger Art-Folk-Rock, der auf Jazzharmonik basiert“ (Record Mirror), sondern auch am jeweiligen musikalischen Zeitgeist, dem die LTB meist konträr entgegenstand. Ihre Musik versuchte, die Konventionen und Beschränkungen des musikalischen Mainstream im Pop/Rock-Bereich zu sprengen. Das bedeutete u.a., daß die radiofreundliche 3 Minuten-Songlänge und das formale Standardschema aus Strophe-Refrain und evtl. noch Bridge vermieden wurden. Stattdessen entwickelte die Band eine Vorliebe für unsymmetrische Strophenlängen, immer wieder krumme Rhythmen und Taktwechsel und ausufernde, beinahe psychedelisch anmutende Instrumentalpassagen, die sich um die intensiven Gesangsparts gruppierten. Daraus entstand eine Musik, die sich nicht ohne weiteres beim Nebenbei-Hören erschließt.
Auch wenn die LTB erst im Frühjahr 1984 offiziell das Licht der Welt erblickte, begann die Geschichte der Band bereits im Herbst 1979 im Dunstkreis der LMU München, als die beiden Psychologiestudenten Alfred Orendt (keyb, fl) und Dieter Göbel (git) ihren Studienkollegen Wolfgang Fastenmeier (git) in das Landhaus von Orendts Eltern am Starnberger See bei München zum Jammen einluden. Zu diesen unverbindlichen Treffen gesellte sich der mit Orendt befreundete Schlagzeuger Frank Otto. Nachdem zunächst meist Coverversionen bekannter Rockhits nachgespielt wurden, wendete sich das Blatt, als Göbel sich in das fernöstliche Mantra verabschiedete und Fastenmeier zusammen mit Orendt begann, mit eigenen ambitionierten Stücken den Weg der Musiker in eine völlig andere Richtung zu steuern. Orientierte man sich zuerst an Vorbildern wie Jethro Tull, Steeleye Span, Pink Floyd oder Camel, so emanzipierte man sich bald davon und die Band begann unter dem Namen „Rocaille“ einen ureigenen, wenngleich damals noch nicht ausgereiften Stil zu kreieren, der später für viele Jahre das Markenzeichen der LTB werden sollte: Kraftvolle und düstere Lieder und Balladen mit epischem Flötenzauber über Galgenvögel, Straßenräuber, Mord, Blutrache, unglückliche Liebe und Seelenschmerz.
Das Kapitel Rocaille sollte nur 2 Jahre dauern; die Idylle des Landhauses mußte aufgegeben werden und ein neues Domizil in München – die Lukaskirche – gefunden werden. Zudem führten unterschiedliche musikalische Ansprüche zum Bruch in der Band: nur noch Fastenmeier, Orendt und die gebürtige Amerikanerin Evely Gora (voc) verblieben. Mit dem österreichischen Bassisten Walter Krainz und dem Schlagzeuger Harald Krüger wurden die kurzlebigen „Strange Ways“ gegründet. Als bald darauf Gora aus privaten Gründen in die USA zurückging, war der Zeitpunkt für einen wirklichen
Neuanfang gekommen: zusammen mit der Sängerin Brigitte Schmidt nannte sich die Band nun mangels Einigung auf einen „richtigen“ Namen nach ihrem Übungsort: LTB. Die Verpflichtung von Schmidt, mit einem Organ ausgestattet, „als ob man Sandy Denny mit Janis Joplin gekreuzt hätte“ (Folk-Rock Society), erwies sich als Glücksgriff. Sie verstand es vor allem, den textlichen Eklektizismus der Band zu transportieren: die Übernahme und Adaptation des Volks- und Dichtungsschatzes der britischen Inseln, eingebettet in dramatische Stücke und Balladen. Vornehmlich Fastenmeier
– die treibende kreative Kraft der Band – fühlte sich inspiriert, Schmidt entsprechende Stücke auf den Leib bzw. die Stimme zu schreiben.
Diese Urformation der LTB – und nach Auffassung vieler Fans auch die beste – eroberte sich schnell eine kleine, treue Fangemeinde. Das Pech der LTB war, daß sie in der Post-Punkära in eine Zeit musikalischer Düsternis traf, den 80erJahren mit ihrem kalten Neon-Pop. Bald warf der Entschluß von Krainz, aus privaten Gründen nach Österreich
zurückzukehren, einen ersten drohenden Schatten auf die Zukunft der Band. Zunächst fand man jedoch in Erik Kisser und später Timm Bahner adäquaten Ersatz und durch die Hinzunahme des Saxophonisten Eberhard Lang erreichte die Band nicht nur eine noch größere Variabilität, sondern auch einen noch volleren Sound. Ab dem Jahr 1987 drehte sich das Personalkarussel nahezu ohne Ende. Zudem war Schmidt wegen ihrer Mutterschaft an einer weiteren Karriere nicht interessiert. Der Versuch der Band, durchverstärkten Einsatz von Funk- und Popelementen sich dem musikalischen Mainstream doch noch anzunähern, mißlang zusehends. Es entstand eine Art „klebriger Soft-Rock-Sülze mit zunehmend dürren Texten“ (Progressive News), ein Zustand, der Anfang der 90er Jahre seinen Höhepunkt fand. Fastenmeier und Orendt widmeten sich verstärkt anderen Projekten und so taumelte die Band im musikalischen Nirwana umher. Zwar erwies sich der musikalisch vielseitige Gerhard Heinisch (b) als personelle Konstante und kurzzeitig konnte deraus der Bigband-Szene stammende Saxophonist Albrecht Pfister engagiert werden. Ab 1993 wurde es aber endgültig ruhig um die Band. Sporadische Lebenszeichen in Form von Bootlegs und Konzerten konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Band kaum mehr als ein unverbindlicher Austausch unter Freunden war, auch wenn sich gegen Ende des Jahrzehnts
eine gewisse personelle Konsolidierung ergab. Pfister kehrte zurück und mit der Sängerin Ricki schien eine Fortentwicklung möglich. Doch schon Ende 1998 bildete sich ein neues Lineup und es schien nur noch eine Frage der Zeit, wann das endgültige Ende der LTB gekommen sein würde.
Um so überraschender das Comeback der Band, die im Jahr 2000 von Grooveme Records als bester Newcomer (!) des Jahres gefeiert wurde. Die Band bestand nun aus Fastenmeier (git), Orendt (keyb, fl), Heinisch (b), Pfister (sax, fl) sowie den neu hinzugekommenen Thomas Willecke (dr) – eigentlich ein „straighter“ Rocker – und der sowohl in den folkigen als auch jazzigen Ecken der Musik ausdrucksstarken Sängerin Angela Maier. Dabei konnten die „vitalen und verjüngt wirkenden Veteranen“ in ihrer Rückbesinnung auf frühere Stärken auch „musikalisch an alte Großtaten anknüpfen“ (ProgWorld).
In der Folge entstand im Jahr 2004 das Album „After Long Years“, das thematisch auf die bewegte Vergangenheit zurückgriff und – trotz einer Reihe von Stücken, denen der Übergangscharakter noch anzumerken war – ein prototypisches LTB-Album darstellte. Das Echo in der Musikwelt war überwältigend, „ein gelungener Mix aus Elementen des Progressive Rock mit Jazzeinflüssen“ (Besonic) oder „Symphonischer Rock mit Folk- und Jazzelementen“ (Musea-Records), „ein für das Jahr 2004 recht ungewöhnliches Progressiv-Rock-Projekt mit folkig-jazzigen Einflüssen, einer sexy weiblichen Stimme am Mikrophon, viel Flöten und Saxophon sowie einem schönen Mix aus elegischen Passagen und märchenhaften Texten“ (Milestones in Rock), sogar Vergleiche mit Größen wie King Crimson, Van der Graf Generator oder Curved Air wurden angestellt. Dank der nun eingekehrten personellen Konstanz entwickelte sich die Band immer mehr zum perfekt eingespielten Ensemble. Als Pfister (sax) die Band verließ, um sich ganz seinen Jazzprojekten zu widmen, war der Weg frei für Fastenmeiers Wunsch, den Folkcharakter der Band zu stärken: bald war Ursula Wilpert an den low und high Whistles engagiert und mit Silvia Szekely eine Violinistin. In dieser erweiterten Besetzung veröffentlichte die Band anläßlich des 25-jährigen Bandjubiläums das Album „Albedo“, das als eine der „besten neuen Folk-Prog-Veröffentlichungen“ (Ohrwaschl) gefeiert wurde. Und tatsächlich bewegte sich die Band von flotten jig- und reelartigen Songs keltischer Provenienz über locker-flockigen Jazzrock à la frühe Caravan zu typisch proggigen Gitarrensoli mit kräftigen Orgeleinsätzen, die klingen, als wären Andy Latimer und der selige Peter Bardens mal kurz zum Jammen vorbeigekommen, nicht zu vergessen die Weltmusik-Einflüsse (Babyblaue Seiten). Für instrumentale Vielfalt sorgte die Erweiterung der üblichen Rockbesetzung um Akkordeon, Violine und diverse Flöten. Damit setzte sich die Band allerdings in den Augen mancher Kritiker endgültig zwischen alle Stühle und entzog sich damit allen Versuchen, ihre Musik in die üblichen Schubladen zu stecken. Diese Entwicklung verstärkte sich, als der Band Ende 2010 ein echter Coup de théatre gelang, nämlich einen Weltstar aus der Jazzszene zu verpflichten: Mit Luluk Purwanto kam ein Derwisch an der Violine mit einer exotisch-extrovertierten Bühnenpräsenz, der den musikalischen Ansatz der Band nochmals erweiterte: als Grundlage eine Art Folk-Rock angelsächsischer Prägung, in der Struktur gespielt wie Progressive Rock mit suitenartigen, mehrteiligen Aufbauten und trotzdem spontanen und ausufernden psychedelisch-jazzigen Improvisationen, aufbauend auf der harmonischen Komplexität der Stücke. So verwirrt die Musik von LTB die strikten Genre-Liebhaber: für Fans des Progressive Rock zu soft, da die Gitarrenattacken des Heavy Metal fehlen und die Toleranz gegenüber weiblichem Gesang bei deren modernen Epigonen eher gering ausgeprägt ist, für die puristischen Folker zu sehr am Rock orientiert, für die Rockfans eine zu starke Orientierung an Jazzharmonik und Strukturen des Jazz. Als Anfang 2013 der langjährige Bassist Gerhard Heinisch seinen Bass aus gesundheitlichen Gründen an den sprichwörtlichen Nagel hängen mußte, ergab sich, daß Timm Bahner (b) eine neue musikalische Herausforderung suchte und wieder an seinen Platz, den er schon 1987/88 (!) innehatte, zur allgemeinen Freude zurückkehrte. Auch wenn Bahner die Vorliebe Fastenmeiers für krumme Taktarten häufig amüsiert zur Kenntnis nimmt (eine Notiz auf einem Leadsheet wurde sogar einmal als 5/14 interpretiert), trägt er nun maßgeblich dazu bei, daß trotz der komplexen Struktur der Stücke der Groove nicht zu kurz kommt und die Band „rockt“. In dem Konzertfilm von 2014 ist die nun wohl reifste LTB-Formation in der Aufzeichnung eines intimen Konzerts zu sehen, das nicht nur deutlich macht, wie perfekt eingespielt die Band ist, sondern auch wie unterschiedlich Live- und Albumversionen von Stücken ausfallen können und wie rauh, verspielt und spontan auch der eher dem Schönklang verpflichtete Sound á la LTB einem begeisterten Publikum vermittelt werden kann.
Ergänzung 2024
10 Jahre später präsentiert sich eine vollkommen runderneuerte Band. Die eigentlich aus der italienischen Popszene stammende Sängerin Paola Ottaviani hat sich in die etwas verwinkelte LTB-Stilistik und die damit verbundenen breiten Tonspreizungen mit Verve eingearbeitet und bringt auch mit ihrer Bühnenpräsenz die Livekonzerte auf ein neues Niveau. Regina Willecke bezaubert mit ihrem Querflötenspiel, von romantischem Schönklang in den Balladen bis hin zur Überblastechnik, die der Jazzer Roland Kirk so berühmt gemacht hat. Dazu kommt ihr ebenfalls jazzorientierter Einsatz des Saxophons als weiterer Klangfarbe. Mit dem vielseitigen, in der Prog-Szene bekannten Markus Lamek am Keyboard gelang es, kongeniale Sounds und Keyboardarrangements in die Musik von LTB einzubringen, was sich auch im aktuellen, aus Anlass des 40-jährigen Bestehens der Band produzierten Album „A Prophecy“ widerspiegelt. Nicht zuletzt kam mit Miguel Pires am Bass ein ebenso versierter wie kreativer Musiker in die Band, dessen Fähigkeit, auf den Punkt zu spielen, immer wieder verblüfft. „A Prophecy“ kann im übrigen bis dato als Opus Magnum von LTB bezeichnet werden, weil es gelang, eine liveartige Atmosphäre in den Stücken auch im Studio zu erzeugen.
Exzerpte aus:
– Paul Burglar (2000). A Comprehensive History of Rock.
Edinburgh University Press.
– Causse de la Selle (2015). Hidden Gems in Contemporary Music. Blakes Online-Music-Press.
(Dtsch. Übersetzung: Geralt Sattelbieger).